DIE WAHRHEIT by Raabe Melanie

DIE WAHRHEIT by Raabe Melanie

Autor:Raabe, Melanie [Raabe, Melanie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-btb HC
veröffentlicht: 2016-08-03T10:05:28+00:00


DER FREMDE

Meine Kopfschmerzen sind so intensiv, dass ich fast nichts mehr sehen kann. Ich kann meine Wut kaum zügeln. Ich habe das ganze Haus durchsucht und nichts gefunden. Das nagt an mir. Grimm hat sich immer noch nicht gemeldet. Aber ich bin okay. Ich werde mich gleich wieder im Griff haben.

Neue Taktik. Ich mache einen Spaziergang durch das Haus, treppauf, treppab, schlendere von Raum zu Raum. Ich versuche, bewusst, nicht nach Verstecken zu suchen, sondern alles wie ein unbedarfter Besucher wahrzunehmen. Alles zum ersten Mal zu sehen. Als ich am Zimmer des Jungen vorbeikomme, halte ich inne. Star-Wars-Poster an den Wänden, eine halb fertige Legoburg auf dem Boden, ein Märchenbuch und ein paar Ausgaben des »Lustigen Taschenbuchs« im Regal. Ich versuche mir das Leben vorzustellen, in das ich hier eingebrochen bin, aber es gelingt mir nicht. Ich nehme einen Comic aus dem Regal, lasse mich damit auf dem Bett nieder, achte darauf, mich nicht auf das blaukarierte Hemd zu setzen, das darauf liegt. Ich blättere den Band durch, ohne richtig hinzusehen. Stelle ihn zurück, verlasse das Kinderzimmer, öffne erneut Tür um Tür. Ein ganz normales Haus mit ganz normalen Räumen.

Schließlich lande ich im Schlafzimmer. Bett und Kleiderschrank, Nachttischschränkchen, Wäschekommode. Rosa Bettwäsche, cremefarbener Teppich. Eine Leselampe auf dem Nachttischschränkchen, Handcreme, eine Packung Taschentücher, ein Paar Ohrenstöpsel, eine Packung Aspirin, ein Buch, das Ladegerät für ein Handy. Ich drehe das Buch herum, Dostojewski. Ich drücke eine der Tabletten aus der Packung, schlucke sie trocken.

Ich öffne den Kleiderschrank. Er ist perfekt sortiert und aufgeräumt. Auf der Innenseite der Schranktür klebt ein steinaltes Poster, das ein Radiohead-Konzert ankündigt. Ich betrachte es einen Moment lang stirnrunzelnd, es scheint so gar nicht zum Rest dieses Schlafzimmers zu passen.

Ich schließe den Schrank, öffne die Wäscheschublade, der ich bisher keine Beachtung geschenkt habe, weil sie mir als Versteck viel zu offensichtlich schien, wühle ein wenig darin herum, finde wie erwartet nichts. Keine alten Briefe, kein Tagebuch, nichts dergleichen. Kurz durchzuckt mich das schlechte Gewissen.

Ja, man könnte Mitgefühl empfinden mit der Frau, die hier lebt. Man könnte sie für einen ganz normalen Menschen halten, sie respektieren, vielleicht sogar bewundern.

Aber sie ist kein guter Mensch. Wenn sie das einst war, dann ist nichts mehr davon übrig. Sie ist nicht diese nette, etwas zurückhaltende Lehrerin und Mutter, die sie allen vorgaukelt. Das darf ich nie vergessen. Wahrscheinlich bin ich der einzige noch lebende Mensch, der das weiß.

Ich schließe die Wäscheschublade wieder und verlasse das Schlafzimmer unverrichteter Dinge. Ich werde anderswo weitersuchen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.